Monatsarchiv: Mai 2015

Warum Palmyra kein Leuchtturm für die Humanität ist

The Guardian hat vor Kurzem einen Artikel veröffentlich zu der Frage, ob wir um Steine weinen dürfen, wo durch IS doch Kinder sterben. Eine interessante Fragestellung. Dazu ein Kommentar.

Es geht nicht um Steine, sondern Humanität

So lautet die Kernthese des Artikels. Museen und Kulturliebhaber solidarisieren sich weltweit Fotografien, die die Daniel Blue Gallery zum Thema Palmyra veröffentlicht hat. Es wäre einfach nur töricht, eine Unterscheidung zu machen zwischen der Trauer um Menschen und der Trauer um Kunst, da Vergangenheit und Zukunft ein integraler Bestandteil der Menschen wären. Es ginge um eine emotional Verbindung zwischen Kunst und dem realen Leben. Begründet wird diese These wie folgt: Im British Museum London sind Bildnisse von verblichenen Bewohnern von Palmyra zu sehen. Sie seien ebenso lebendig wie wir, es gehe nicht um einen fernen Ort und deshalb geht es nicht nur um Steine, sondern um ein  Spiegelbild unserer selbst. Nur durch das Schätzen der Vergangenheit, könnten wir uns um die Zukunft sorgen, uns „zivilisiert“ nennen. Anderenfalls wären wir nur Tiere ohne Erinnerung.

Was als letztes Argument genannt wird, bleibt auch am ehesten hängen: Tiere sind ja so unzivilisiert. Sie haben keine Kultur und keine Erinnerung. Die aktuelle Wissenschaft schreibt aber genau dies diversen Tierarten, die in sozialen Verbänden leben, darunter Raben und Primaten, Elefanten und Dammwild, zu. Sie besitzen ein kollektives Gedächtnis, was bedeutet, dass Wissensinhalte über mehrere Generationen innerhalb der Gruppe weitergegeben werden. Die Mär der menschlichen Überlegenheit über das Tier hat eine christliche Wurzel. Viele Jahrhunderte legte die Theologie die Texte der Genesis so aus, als stünde der Mensch über dem Tier, sei ihm in allem überlegen und das sei „Gott gewollt“. Streicht mensch diese Vorannahme weg, fällt dieses Argument, der Mensch müsse seine Kultur erhalten und schützen, weil es eine urmenschliche Eigenart wäre, in sich zusammen. „Je suis Palmyra“, das hätte nur noch gefehlt.

Gut, zumindest nutzt der Autor Jonathan Jones nicht das Argument, dass Palmyra verteidigt werden müsse, weil es eben der Islamische Staat (IS) sei, der es bedroht. Oder tut er das doch? Obwohl er das Wort zivilisiert in Anführungszeichen setzt, hinterlässt gerade diese Begründung einen faden Beigeschmack. Sind etwa wir im Westen die Zivilisierten, weil nur wir erkennen, wie erhaltenswert Palmyra ist? Wenn wir die Zivilisierten sind, sind die anderen offenbar die Barbaren? Die, die einfach nicht verstehen wollen – oder die einfach zu unaufgeklärt sind – als dass sie verstehen könnten, wie wertvoll die antike Stätte für die Menschheit ist.
Übertragen wird das auf einen ähnlichen Sachverhalt. Im Brasilianischen Regenwald wurden in den letzten zehn Jahren durchschnittlich drei Fußballfelder pro Minute abgeholzt. Folgen wir der Argumentation des Autors, geht es nicht um alte Steine und auch nicht um Bäume. Es geht um Kulturgut und -raum, die Teil unserer Menschheitsgeschichte sind, unseres kollektiven Gedächtnisses. Ettlicher indigener Völker leben aktuell dort im Regenwald. Wie zivilisiert sind wir, wenn wir noch lebenden Menschen, ihre Kultur- und Lebensräume zerstören, ihr kulturelles Gedächtnis etwas ärmer machen? Und gibt es hier nicht einen „emotionalen“ Vorrang von tatsächlich lebenden Menschen anstatt nur imaginär lebenden Menschen, nämlich den historischen Personen aus Palmyra? Geschichte ist wichtig für unsere Identität. Doch sollten immer die lebenserhaltenden Maßnahmen für die noch Lebenden über die der historischen Toten gestellt werden.

Die Dichotomie zivilisiert – barbarisch ist darüber hinaus eine ethnozentrische Setzung. Fragen Sie mal die Herren vom IS. Die werden Ihnen sicher versichern, wie unzivilisiert der diabolisierte Westen, angeführt von den USA, sich verhält.

Was unterscheidet Palmyra von einem aktuelleren Projekt, beispielsweise einer Rettungsgrabung? Rettungsgrabungen werden auf Baustellen durchgeführt, bei denen es zufällig während der Erdarbeiten zu einem archeologischen Fund kam. Dann wird die Arbeit gestoppt und eine Art Erste-Hilfe-Truppe von Archeologen rollt an, die unter Zeitdruck (denn Zeit ist Geld) die historischen Überreste erfasst. Da das Bauprojekt nicht abgebrochen wird, wenn es sich nicht gerade um Ötzi 2 oder die Entdeckung von Atlantis handelt (also etwas von außerordentlicher historischer Bedeutung), wird auch diese Kulturstätte anschließend versiegelt, zubetoniert, ausgehoben, vernichtet. Natürlich wurde alles für die Nachwelt dokumentiert. Das ist bei Palmyra auch der Fall. Wo ist nun der Unterschied?

Natürlich kann argumentiert werden, dass in Palmyra noch Stein auf Stein steht. Es ist eine besondere Stätte, da es von ihrersgleichen nur noch wenige gibt, wenn sie nicht gar einzigartig ist. Die Frage bleibt, was sie unterscheidet, von einer antiken Stadt, einige Meter unter dem Rasen hinter dem Münchner Rathaus, die vor einigen Monaten wieder sorgfältig zugeschüttet wurde (nach einer archeologischen Erfassung).

Wären es Einheimische gewesen, oder Bombenangriffe der Iraker oder friedliebende Buddhisten, die nach und nach die Stadt Stein um Stein abgetragen hätten, würden wir uns ebenso um Palmyra sorgen? Die Situation, beispielsweise in Pompeij, das nach und nach dem Verfall preis gegeben wird, lässt mutmaßen, dass es wohl nicht so wäre. Es ist also nicht unwesentlich in der Diskussion, dass es eben der Islamische Staat ist, der Palmyra mutmaßlich bedroht. Steine zu schützen, weil wir die Bedroher der Steine nicht mögen, das ist wohl eine Übertragung und erinnert an russische Boykottversuche europäischer Produkte seit Beginn der Ukraine-Krise. Palmyra wird instrumentalisiert. Es geht nicht um alte Steine. Es geht um den IS. Und Palmyra ist in Geiselhaft – gegen den IS. Darüber sollten wir uns klar werden.

Über allem steht wohl unbestritten, dass ein Menschenleben wichtiger ist (und wichtiger zu sein hat) als jeder Stein dieser Erde. Man kann gegen die Zerstörung von Palmyra sein. Man kann auch gegen den IS sein. Aber bitte nicht gegen den IS weil seine Mitglieder drohen, Palmyra zu zerstören, oder nicht für den Erhalt von Palmyra weil es der IS ist, der es bedroht. Vermischungen religiöser und politischer Art mit Eigeninteressen sind es, die die Athmosphäre erhitzen und erschweren, unter der Fokussierung auf die einzelnen Fragmente, einen kühlen Kopf zu bewahren.