Über die Pathologie einer Gesellschaft
Warum so auffällig viele junge Leute heutzutage mit psychischen Problemen zu kämpfen haben, hat mich neulich eine Dozentin aus früheren Zeiten gefragt. Das ist eine gute Frage, der es nachzugehen lohnt.
Keine Konflikte in Sicht
Häufig ist zu hören, wir hätten ja sonst keine existentiellen Probleme, keinen Krieg, keinen Hunger, ein komfortables Leben, nur einfach zu viel Zeit uns Gedanken zu machen. Stimmt soweit. Bei dieser Ansicht fällt nur leider der Fakt hinten runter, dass ein psychisches Leiden an sich die existentielle Bedrohnung sein kann. Diese Idee hatte schon mal jemand: Abraham Maslow erstellte dafür seine Bedürfnispyramide, bei der Selbstverwirklichung ziemlich spät erst bedeutend wird. Bei einem Blick darauf dürfte schnell deutlich werden, dass das so nicht stimmen kann. Es gibt beispielsweise Millionen Menschen, deren basale physiologische Bedürfnisse wie Hunger und Durst nicht gestillt sind, die aber dennoch ein Bedürfnis nach Transzendenz (zum Beispiel Kontakt mit Gott), nach persönlicher Anerkennung oder auch Sicherheit haben.
Zudem gibt es durchaus einen kumulativen Effekt bei psychischem Leiden. Auch wer zu seinen Lebzeiten keinen Krieg erlebt hat, bekommt die Folgen durch die Eltern oder Großeltern mit. Häufig ist zu hören, „die hätten das ja auch überlebt ohne Psychiater“. Haben sie. Die Frage ist nur, wie sie damit leben (müssen). Ihr verändertes Verhalten haben sie nicht nur über die Gene vererbt, sondern auch ganz praktisch an die Kinder und Enkel weiter gegeben. Diese kommen dann damit vielleicht nur auf eine andere Art und Weise zurecht als Eltern oder Großeltern. Sie tragen jedenfalls Kriegslasten, ohne je etwas mit einem Krieg zu tun gehabt zu haben. Dieser kumulative Effekt ist eine mögliche Erklärung für den (gefühlten) Anstieg psychischer Erkrankungen. Erklärt dieser Zusammenhang den Anstieg von Behandlungszahlen? Oder gibt es am Ende gar keinen tatsächlichen Anstieg, nur einen nominellen?
Ein Arzt und eine Gesellschaft von Klempnern
Ein weiterer Grund für die Zunahme ist die Aufmerksamkeit gegenüber der Psyche als wesentlichem Bestandteil menschlicher Gesundheit, die sich erhöht hat. Hausärzte reagieren heute sensibler auf das Thema seelischen Befindens, ziehen es in Betracht für etwaige körperliche Erkrankungen. Was im Kopf passiert ist nicht selten Auslöser für somatische Erkrankungen. Früher hatte der Hausarzt noch mehr das Selbstverständnis von einem Klempner, der physische, fehlerhafte Stelle einfach mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu reparieren wusste. Heute wird öfter auf den psychotherapeutischen Kollegen verwiesen, als direkt an den Chirurgen, da sich die Sicht auf den Menschen in rein bio-physischer Hinsicht wesentlich erweitert hat.
Zum anderen ist das Bewusstsein für psychische Erkrankungen auch in der Gesellschaft gewachsen. Die Presse versuchte relativ ratlos nach Ereignissen wie dem Tod von Robert Enke oder dem Absturz der Germanwings-Maschine die Ursachen zu erklären, und das diffuse Erscheinungsbild einer psychischen Veränderung greifbar zu machen. Spätestens seit es der Begriff „Burnout“ als vorzeigbare Erklärung für nicht-physische Leiden gibt, sind nun psychische Probleme gesellschaftsfähig. Oder doch nicht? Denn, dass Burnout noch gar keine so klar definierten Diagnosekriterien hat und die Symptome auffallend ähnlich sind zu einer schweren Depression, das wird oft verschwiegen. Es gibt sie doch noch, diese eben nicht salonfähigen psychischen Probleme. Das sind so ziemlich alle anderen – außer Burnout, was ja einem Orden für außerordentlich aufopfernde Arbeitsmoral gleichkommt.
Steigende Behandlungszahlen: Mehr erkrankt oder mehr erkannt?
Es bleibt also die Frage, ob es tatsächlich mehr Menschen gibt, die an nichtkörperlichen Schmerzen leiden, als früher. Der Dorfpfarrer meiner Großmutter hat mal erwähnt, dass es das alles im Prinzip schon immer gegeben hat. „Nur früher nannte man es halt Schwermut“. Daraus resultierenden Verhaltensweisen wie soziale Kontaktscheue, Alkoholmissbrauch oder gar ein Suizid, wurden in allerseits anerkannter Dorfkultur einfach unter den Teppich gekehrt. Zumindest in der Familie verschwiegen, aber keinesfalls nach außen getragen. Geistliche dürften zu dieser Zeit wohl die einzigen gewesen sein, die tatsächlich solche Familiengeheimnisse zugetragen bekommen haben dürften.
Die ständig steigende Zahl von hilfsbedürftigen Menschen, die die Zunft der Psychotherapeuten regelrecht überrennen, könnte also auch daher rühren, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Mensch und Kirchenvertreter geschwächt ist und in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung verloren hat. Sind sozusagen Psychotherapeuten die besseren Seelsorger? Nicht von der Hand zu weisen ist, dass sie ein weltanschaulich unabhängiges Angebot an Sinndeutungen haben. Auch ohne Bußauflagen und Kirchensteuer wird hier eine individuelle Betreuung in Krisen angeboten. Es könnte also daraus abgeleitet werden, dass der Mensch an sich etwas sucht, das er nun bei den Kirchen nicht mehr findet, und sich deshalb in seiner ausgewachsenen Sinnkrise einer psychologisch ausgebildeten Person zuwendet.
Einige Studien arbeiten in unterschiedlichen Varianten immer wieder heraus, wie belastend es doch ist, in diesen Zeiten zu Leben. Der Druck auf der Arbeit steigt in unermessliche Höhe, unsichere Perspektiven in der Arbeitswelt und dem Privatleben verunsichern uns. Die ständige Erreichbarkeit über Smartphones und die beschleunigte Kommunikation über Email und soziale Netzwerke erzeugt in uns „Stress“. Stress ist in der Evolution eigentlich dazu gedacht gewesen, möglichst schnell körperliche passende Botenstoffe auszuschütten, die uns helfen aus akuten Gefahrensituationen zu fliehen. Der Löwe hat unsere Vorfahren dann irgendwann erwischt und gefressen oder sie sind entkommen. Stresssituation beendet. Heute allerdings haben wir diese unsichtbaren Bedrohungen permanent um uns herum. Sie lösen diffuse Empfindungen aus und daraus resultierend wohl auch vermehrt psychisches Leiden.
„Burnout“ ist eben einer jener Begriffe, die Zustände beschreiben, die offensichtlich einer genaueren Beschreibung bedürfen. Auch in der physischen Medizin gibt es immer mehr Krankheiten. Sie werden nicht erfunden, sondern benannt, nachdem sie erkannt und beschrieben werden konnten. So verhält es sich auch mit nicht physischen Erkrankungen. Sigmund Freud starb 1939. Er gilt als „Vater der Psychologie“. Es ist also noch nicht einmal hundert Jahre vorbei, in der wir uns mit diesem Teil der Medizin intensiver befassen. Es gibt jetzt einfach medizinische Fachbegriffe dafür, plötzlich von Herzrasen und einer Angst überfallen zu werden oder sich nicht mehr unter Menschen zu trauen. Natürlich geht damit auch das Risiko einer Pathologisierung einher. Der Korridor, der vorgibt was „normal“ ist und was „abweichend“, wird scheinbar immer schmaler. Somit wird auch die Grenze immer klarer. Es gibt weniger Menschen, die einfach als „etwas eigenartig“ oder „besonders“ beschrieben werden. Nur noch die mit Diagnose und die ohne, oder die mit psychologischer Behandlung und die ohne. Natürlich sagt das alles jedoch nichts aus über die tatsächliche psychische Verfassung unserer Gesellschaft. Die Mehrheit legt die Kriterien fest. Aber die Mehrheit kann auch irren.
Der Bumerangeffekt
Moderne Kommunikationswege haben auch dazu geführt, dass heute jeder eine Stimme haben kann, wenn er oder sie denn möchte. Ein Blog anlegen ist kinderleicht. Eine Seite auf Facebook zu verwalten, läuft ganz nebenbei. So können nun auch vermehrt Menschen zu Wort kommen, die betroffen sind. Abgesehen davon, dass dies das Risiko sozialer Ächtung bis hin zu beruflichen Nachteilen in sich trägt, können Betroffene untereinander nun in Kontakt treten und spezialisierte Organisationen Informationen und Hilfe bereit stellen. Die interessierte Mehrheitsgesellschaft, wenn sie denn interessiert ist, hat nun die Möglichkeit auch auf Beschreibungen aus erster Hand zuzugreifen. Darin liegt ein enormes Potential Akzeptanz zu fördern und soziale Ausgrenzung zu vermindern.
Zum anderen gibt es die Gefahr von Trittbrettfahrern. Schon Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werthers“ führte tausende Nachahmer in den Suizid. Ähnliches konnte und kann in den letzten Jahren um auto-aggressives Verhalten oder Essstörungen beobachtet werden. Die Jugendkultur „Emo“ lebte in ihren selbstdarstellenden Zügen vom Medium des Internets als Plattform und stellt ihre selbstschädigenden Handlungen (ritzen, schnibbeln, SVV) und Gedanken vor einer Webgemeinde dar. Ähnlich verhält es sich mit den Bewegungen „Pro-Ana“ und „Pro-Mia“, deren Mitglieder sehr wohl zur Kenntnis nehmen, dass ihr Essverhalten medizinisch als ungesund eingestuft wird (Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa), kultivieren dieses doch weiterhin auf privaten Websites, Blogs und Foren.
Der Verdacht, ein psychisches Leiden wäre nur eine „Phase“ oder eine „Mode“ liegt nahe. Natürlich gibt es Menschen, die „mal einen schlechten Tag haben“ selbst als depressiv deklarieren. Das Tragikomische daran ist, dass das Münchhausen-Syndrom ( bezeichnet das Erfinden oder Hervorrufen körperlicher Erkrankung mit anschließender dramatischer Präsentation) für sich selbst genommen schon als psychische Störung verstanden wird.
Zum anderen gibt es tatsächlich Erkrankte, die sich in ihrer Krankheit und Opferrolle gut einrichtet haben. Self-handicapping kommt als Mittel der Dissonanzvermeidung allerdings auch bei fast allen Menschen ohne Diagnose vor. Natürlich liegt nahe, dass der oder die Vortäuschende eines ernsthaften psychischen Problems tatsächlich in der ein oder anderen Art und Weise ein ernsthaftes Problem hat. Die Grenzen werden durch feinere Diagnosekriterien und klarere Beschreibungen nur scheinbar klarer. Unterm Strich machen sie uns alle nur ein bisschen „kränker“, indem wir medizinische Begriffe finden, für Dinge, die uns umtreiben.
Es geht auch um Trittbrettfahrer, die die öffentliche Wahrnehmung von psychischen Erkrankungen erhöhen und manchmal auch verfälschen, indem sie sich selbst als „krank“ etikettieren. Sobald jedoch ein tatsächlich Leiden verursachendes Element zum Accessoire für eine Subkultur wird, fördert das nicht gerade die so dringend notwendige Erkenntnis, dass es sich um eine die gesamte Gesellschaft betreffende Problematik handelt. Niemand ist dagegen gefeit. Nicht gegen körperliche und ebenso nicht gegen physische Erkrankung. Und hat es einen getroffen, ist es nicht mehr möglich, die Belastung abzulegen, wie ein modisches Kleidungsstück.
Am Ende bleibt trotz all dieser Überlegungen die Frage offen, ob die aktuelle junge Generation tatsächlich leidgeplagter von psychischen Problemen ist, als andere Generationen. Dafür wäre auch ein Blick auf wirtschaftliche Entwicklungen sinnvoll. Vielversprechend sind statistische Daten, zum Beispiel der Shell Studies, die behaupten Ziele und Emotionen ganzer Nationen zu erfassen.