Ein kleiner Ausflug in die Subkultur des Bodybuildings
In letzter Zeit habe ich mir einige Fragen zum Thema Outgroup – Ingroup und Subkultur gestellt. Auslöser war der Besuch eines Bodybuilding-Wettkampfes. Diese Eindrücke führten bei mir zu Einsichten und Irritationen und zu der Frage: „Sind die noch normal?“.
Am Ende der Vorbereitungsdiät steht bei jedem Athleten oder jeder Athletin der Wettkampf. 2014 hatte ich die Möglichkeit, mir das einmal live anzuschauen. Auf Landesebene, bei der Bayerischen Meisterschaft, war das Ganze noch recht familiär und überschaubar. Bei der Deutschen Meisterschaft auf Bundesebene fand ich mich dann wieder in einem El Dorado der Plastik-Barbies.
Zu dieser Entwicklung kam es, als vor einigen Jahren die Bikiniklasse eingeführt wurde. Sie sollte den Außenseitersport interessanter machen und Hürden zur Teilnahme an Wettkämpfen abbauen. Bei den Damen hat das gefruchtet. Die neue Klasse platzt, egal wo sie stattfindet, aus allen Nähten, so dass es nun auch eine „Bikiniklasse“ für Männer gibt – genannt Mens Physique. Deren Vorführung hat mich wirklich erheitert, denn sie waren das passende Pendant zur Barbie-Klasse… lauter Barbie-Kens. Der Vollständigkeit halber sollte ich erwähnen, dass diese Klasse bei eingefleischten Bodybuildern umstritten ist, da nur der Oberkörper gewertet wird. Dies widerspricht dem Ideal eines komplett (!) wohlgeformten, athletischen Körpers. Leider konnte das auch das Publikum erkennen. Die austrainierten Oberkörper wurden bei einigen Teilnehmern nur von knielangen Badehosen optisch von den dünnen, untrainierten Waden getrennt. Gänzende, braune athletische Körper wie wir sie nur aus Hollywood-Streifen kennen live auf der Bühne. The American Way of Life da im beschaulichen Wiesloch, direkt vor meinen Augen, um mich herum. Glitzer und glamour ‚made in Germany‘.
Dass frau sich aufhübscht, stylt und mit Glitzer-bling-bling-Bikinis hervorhebt, das hatte ich auf der Bayerischen Meisterschaft schon kennengelernt und fand ich eher interessant als überraschend. Schließlich schlüpft wohl jedeR gern mal in eine ganz andere Rolle, als was seinem Naturell am nähesten liegen würde. Aber hier wurde ganz deutlich, dass es um eine Optimierung der körperlichen Gegebenheiten ging. „Klar! Das ist wohl der Sinn von Bodybuilding“, antworten irritierte Leser. Was mich allerdings irritiert hat, waren die Mittel zu diesem Zweck. Denn das waren offensichtlich nicht nur Hanteln und ein paar Eiweißshakes.
Den Begriff „over-sexualized“ will ich (noch) nicht verwenden, aber den der Plastikbrüste. Sie muteten an wie seltsam abstehende halbe Fußbälle oder sorgfältig geteilte Melonen, die ohne körperliche Passung teilweise abstanden, als wären sie nicht Teil des Körpers, sondern seltsame Hämatome an von männlichen Augen bevorzugten Stellen. Ist ja auch kein Wunder bei Körpern, an denen kaum mehr Fett ist. Üppige Brüste an einem ausgemergelten Körper fallen auf. Für gewöhnlich bestehen diese nämlich zu einem Großteil aus Fett. Das wanderte wohl bei einigen gesegneten Kandidatinnen vom Rest des Körpers in den Busen – mit chirurgischer Hilfe und in Silikonform. Kein Wunder, dass das etwas „unnatürlich“ wirken könnte.
Aufmerksam wurde ich auf die Verlinkung zwischen Wettkampfambitionen und dem Gedankenspiel mit einer Brustvergrößerung durch immer wieder auftauchende Fragen in Fitness- und Bodybuildingforen für Frauen. Oder über namhafte Topathletinnen, die in dem ein oder anderen Video erzählen, dass eine der häufigsten an sie gestellten Fragen sei, ob für Erfolg in der Bikiniklasse gemachte Brüste Voraussetzung seien. Natürlich wird dies immer verneint. Schaut frau sich allerdings genauer um, muss sie Damen ohne chirurgische Hilfe mit der Lupe suchen. Klar, das Schönheitsideal drückt sich auch – oder gerade eben – in diesem körperfixierten Sport aus. Natürlich gibt es auch die Athletinnen, deren Silikonbusen vor dem Kraftsport schon da war. Und es gibt die Athletinnen, deren Brüste einfach „natürlich schön gemacht“ sind – jedenfalls nicht wie abstehende Pampelmusen. Die Frage, ob dieser Sport eine bestimmte Gruppen von Frauen beziehungsweise Personen mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen oder einer bestimmten psychologischen Konstitution anzieht, lasse ich an dieser Stelle mal im Raum stehen.
Der zweite prägende Eindruck während des Wettkampfgeschehens waren die Beulen am Hintern einer Athletin. Seltsam symmetrisch erhoben sie sich von ihrem wohl geformten Hintern, den sie selbstsicher der Jury entgegen reckte. Vor dieser Szene auf der Bühne, hatten mich andere Zuschauer, die die Vorwahlen gesehen hatten, bereits auf dieses Hinterteil angesprochen. Naiv wie ich bin, dachte ich, es wäre einfache Cellulite gemeint. Als sie sich dann umdrehte wurde mir klar, dass hier wohl von etwas anderem die Rede war.
Nach einigen Gesprächen in den Folgewochen wurde mir klar, dass auch in der „Prinzessinnenklasse“, der Einsteigerklasse für Frauen, nicht mehr nur mit Wasser und Proteinshakes gekämpt wird. Man munkelte, die Po-Beulen dürften Einstichstellen gewesen sein. Da es scheinbar jedoch noch immer (naive) Athletinnen gibt, die genau das nicht tun (wie meine Bekannte, die teilgenommen hatte), kam ich nicht um die Frage herum: Ist das Schummeln?
Da es sich bei der Anwendung diverser Hilfmittel offensichtlich um einen Konsens, nein, gar eine Bedingung für den sportlichen Erfolg in diesem Verband handelt, kommt mensch früher oder später nicht darum herum zu schummeln, wenn man Erfolg haben will. Ist es dann noch „schummeln“? Oder ist es als eine Nötigung zum „Schummeln“ zu verstehen? Am Ende bleibt, dass derjenige der Depp ist, der nicht bereit ist zu schummeln. Und wie verbreitet die Schummeleien sind, wird vielen wohl erst klar, wenn sie das erste Mal live dabei sind. Sind das also alles nur unsportliche Schummler oder sind die Schummelverweigerer einfach nur naive Spielverderber? Damit sind natürlich nur die gemeint, die diese „Gewohnheit“ anprangern. Reden wir nicht um den heißen Brei herum. Im Reglement steht, wie bei jedem Sportverband, der ernst genommen werden möchte, dass offensichtlicher Anabolikamissbrauch zur Disqualifizierung führt. Ein Insider hatte diesbezüglich einen Satz formuliert, der wie kein anderer die Frage beantwortet, warum die Beulen am Hintern jener Athletin keine Konsequenzen hatten: In seinem Ignorieren des Anabolikamissbrauchs ist der Verband überraschend konsequent.
Dies führte mich zu der Frage, ob man noch von einem ernsthaften Sport sprechen kann, wenn man zum Schummeln mehr oder weniger genötigt ist. Klar, sein lassen kann man es immer. Und dann? Sieht mensch sich genauer um, fällt auf, dass kaum ein Sport, wenn er nur intensiv genug betrieben wird, heute noch ohne Schummeln auskommt. Fußball? Verdorben. Rennrad fahren? Sowieso. Olympia? Ein Molloch von Substanzen an der Grenze und darüber hinaus.
Genau. Die Grenze. Die Grenze, was erlaubt ist und was nicht, wird gezogen von Menschen. Diese erlauben Höhentraining und schlafen in einer Kabine, die Höhenluft nachahmt, aber nicht das Abzapfen von Blut nach dem Höhentraining und spätere wieder zuführen. Das sogenannte „Blutdoping“ hat genau die gleiche Wirkung, wie die Kabinen-Methode. Chemisch kann man diese natürlich auch noch erzielen. Im Endeffekt ist das Ergebnis das gleiche. Was ist erlaubt, was nicht?
Es scheint doch etwas Urmenschliches zu sein, dass wir uns immer wieder neu erfinden, an unsere Grenzen gehen wollen und noch darüber hinaus. In dieser Hinsicht ist Sport vielleicht nichts anderes als Forschung. Geclonte Schafe, optimiertes Gen-Getreide, Kernenergie, In-vitro-Fertilisation und extrem belastbarer Superstahl sind nur ein paar Beispiele für Forschungsinnovationen. Was ist erlaubt, was nicht? Und unterwelchen Bedingungen?
Hier kann mensch argumentieren, dass die Forschung schließlich dem Wohle der Menschheit dient. Sport ist eine individualistische Angelegenheit (wenn wir den Völkerverständigungsaspekt bei Weltmeisterschaften und Olympia außen vor lassen). Der Sportler „ruiniert“ sich nicht für sein Vaterland, sondern für den eigenen Ruhm. Und dafür lassen sich sogar Neueinsteiger in den Sport Silikon implantieren und Spritzen setzen. Was ist erlaubt, was nicht?
Ein Brust-OP ist eine chirurgischer Eingriff am Körper mit dauerhaften Folgen. Wo ist eigentlich der Unterschied zu chemischen Substanzen? Diese haben in der Regel eine kürzere Halbwertszeit als Silikonbrüste. Und warum gilt jemand nicht als „gedopet“, wenn er/sie Schilddrüsenhormone oder ein Antidepressivum nimmt? Schließlich greifen diese in Stoffwechselvorgänge ein. Natürlich ist dies medizinisch begründet. Der „nicht richtig funktionierende Mensch“ wird durch Medikamente zu einem „normal funktionierenden“ gemacht. Dass nicht „normal“ oder „gesund“ auch nur wieder Grenzsetzungen sind, die von Menschen irgendwann gezogen wurden, muss wohl nicht extra erwähnt werden. Menschen mit bestimmten psychischen Erkrankungen waren früher „außergewöhnlich“, „visionär“ oder von Gott besonders geliebt (mit Potential zu Heiligsprechung). Heute wären sie einfach nur abnormal und krank, korrekturbedürftig auf jeden Fall.
Zurück zu den Plastik-Brüsten… Gehen wird einmal davon aus, sie sind die Korrektur der unvollkommenen Natur, beziehungsweise der menschliche Korrekturversuch einem Gruppenkonsens von „Schönheit“ zu entsprechen. Schönheit ist gesellschaftlich bestimmt. Weltumspannend kann gut beobachtet werden, welch unterschiedliche Verständnisse es davon gibt. Zu denken wäre an die Frauen mit Giraffenhälsen, Tattoowierungen und Piercings in den Ohren oder im Mundbereich oder an chinesische Lilienfüße, die glücklicherweise der Vergangenheit angehören. Bereits einige dieser Techniken der Körpemodifikation haben Eingang in eine europäische Körperkultur gefunden, darunter Tattoos, Piercings oder auch Bodybuilding, was ebenfalls eine Form der Körpergestaltung ist. Mit welcher Begründung, ist also eine Körpermodifikation durch operative Eingriffe gerechtfertigt, nicht aber eine Veränderung durch chemische Hilfe? Und warum stößt sich die außenstehende Gesellschaft an dem einen, am anderen aber nicht?
Vielleicht ist es eine menschliche Urangst, der Mensch könnte über sich selbst hinaus wachsen. In der Geschichte der Menschheit geben Religionen viele Beispiele für den Versuch der Eingrenzung dieses „Überwachstums“. Vielleicht, weil wir dann gottgleich werden würden? Oder uns die Angst übermannt, wir könnten uns selbst übermannen, uns selbst strangulieren, ja ruinieren? Der Mensch soll am Boden bleiben und nicht sprichwörtlich über seine „natürlichen Fähigkeiten“ (was auch immer diese sein mögen) hinauswachsen.
Nun tun Bodybuilder genau dies. Sie wachsen. Unaufhörlich. Wie die Mastbullen häufen sie Muskeln zu Bergen an über ihrem Knochengerüst, dass Köpfe wie Erben wirken lässt, auf einem Berg von Fleisch. Sie sind die Verkörperkung von „über sich hinaus wachsen“. Vielleicht wird es deshalb von der Gesellschaft als „abartig“ wahrgenommen.
Und weil dies nur mit bestimmten Mittelchen möglich ist, sind diese Hilfmittel „böse“. Dabei ist ein Bodybuilder nicht „abartiger“ als jeder forschende Wissenschaftler. Im Gegenteil… Er setzt seine eigene Gesundheit auf’s Spiel – und nur diese – während doch schon der ein oder andere Forschende mal das Budget des Drittmittelgebers oder gar Leib und Leben von anderen Lebewesen riskiert.
Zurück zu den Plastik-Brüsten… Sie verkörpern das menschliche Streben nach Perfektion, Schönheit, Anerkennung. Und das mit allen den Menschen zur Verfügung stehenden Mitteln. Damit unterscheiden sie sich nicht von anderen Lebensbereichen. Andere Menschen optimieren ihr Ego durch den Besitz eines standesgemäßgen Luxusautos, einer Wohnungseinrichtung wie aus dem Möbelkatalog oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (nennen wir sie die vermeintlichen Schickerias oder High Societies dieser Welt). Bodybuildingsportler tun dies durch ihre Körpergestaltung. Sie unterscheiden sich auf den ersten Blick von anderen Menschen – von der Mehrheit der Menschen. Und deshalb sind sie ein Vorwurf. Denn Attraktivität kann nicht einfach im nächsten Möbelhaus käuflich erworben werden. Ein Hauch der „Perfektion“ umschwirrt sie und zeigt allen anderen „das ist möglich“. Sportliche Körper werden mit Gesundheit assoziiert. Die Mittel zum Zweck dieser Modifikation werden zum Vorwurf. Denn sie sind die Mittel, um über sich selbst hinaus zu wachsen, auf Kosten seiner eigenen Gesundheit – und nur dieser.